SPANIEN 
Ein Jahr nach Einführung des Sterbehilfegesetzes: Erste Erkenntnisse

 

Gastbeitrag von Borja Robert, Medienverantwortliche, Derecho a Morir Dignamente, Spanien

Am 25. Juni 2022 ist ein Jahr vergangen seit dem Inkrafttreten des Sterbehilfegesetzes in Spanien. Es bestehen noch einige regionale Hürden, und die Zahl der Fälle ist begrenzt. Das breite Spektrum an Leiden, bei denen von dem Gesetz Gebrauch gemacht werden kann, gibt Hoffnung für die Zukunft.

Genau vier Wochen nach Inkrafttreten des Sterbehilfegesetzes nahm in Spanien die erste Person diese Möglichkeit in Anspruch. Eskarne, eine 86-jährige Frau aus dem Baskenland, konnte nicht mehr sprechen und erkannte ihre Liebsten nicht mehr, als sie starb. Sie litt unter einer schweren Form von Demenz und war nicht mehr urteilsfähig. Es war jedoch ihre eigene Entscheidung: Bereits zehn Jahre zuvor, noch urteilsfähig, hatte sie in ihrer Patientenverfügung explizit um Sterbehilfe gebeten. «Es würde gegen meine Werte und Überzeugungen verstossen, nicht mehr autonom genug zu sein, einfache Alltagshandlungen selbst durchzuführen. Ich würde dabei unerträglich leiden und ich würde dies nicht aushalten wollen. Sollte dies eintreffen, möchte ich, dass man mir hilft zu sterben, rasch und friedlich, durch aktive Sterbehilfe», hatte sie gemäss der spanischen Zeitung El País geschrieben, die mit ihrer Familie sprach.

Das spanische Sterbehilfegesetz trat am 25. Juni 2021 in Kraft, nach 18 Monaten parlamentarischer Debatte und mehr als einem Dutzend gescheiterter Versuche seit den 1990er Jahren. Das Gesetz wurde mit 203 Ja- gegen 140 Nein-Stimmen verabschiedet. Es räumt den Bürgern ein neues Recht ein und macht eine jahrzehntelange demokratische Anomalie rückgängig: Während laut allen Umfragen zu diesem Thema mindestens 72 % der spanischen Bürgerinnen und Bürger die Legalisierung der Sterbehilfe befürworteten, blieb sie verboten und wurde mit Gefängnis bestraft.

Eskarnes Tod war der erste von etwa 180 Fällen von Sterbehilfe in den folgenden zwölf Monaten. Das ist eine kleine Zahl, wenn man bedenkt, dass in Spanien 47 Millionen Menschen leben und jährlich etwa 420 000 Menschen sterben (die Coronavirus-Pandemie ausgenommen, die diese Zahl auf über 490 000 im Jahr 2020 ansteigen liess). Die Sterbehilfe machte also in diesem ersten Jahr etwa 0,04 % aller Todesfälle aus. Ein Vergleich: In Kanada, das eine geringere Bevölkerungszahl aufweist, nahmen im ersten Jahr nach Einführung eines Gesetzes (2016) 1 015 Menschen ärztlich begleitete Sterbehilfe (MAID) in Anspruch (0,3 % aller Todesfälle).

Die ersten Monate nach Inkrafttreten des spanischen Sterbehilfegesetzes waren schwierig. Die 17 spanischen autonomen Gemeinschaften, die für ihre Gesundheitssysteme selbst zuständig sind, mussten das neue Recht auf Sterbehilfe umsetzen. Nicht alle nahmen dieses Unterfangen gleich ernst. Während einige, wie das Baskenland und Katalonien, schon am 25. Juni bereit waren, verschleppten andere die Umsetzung um Monate. Madrid und Andalusien – wo zusammengenommen etwa ein Drittel der spanischen Bevölkerung lebt – zögerten bis Oktober bzw. November. Monatelang hatten die Menschen dort zwar das Recht auf Sterbehilfe, aber keine Möglichkeit, dieses auszuüben.

Zudem vernachlässigten einige Regionen die Ausbildung des Gesundheitspersonals. Viele wussten (und wissen immer noch) nicht, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie einen Antrag auf Sterbehilfe erhalten. Dies führt zu Verwirrung bei den Fachpersonen und zu zusätzlichem Leid bei denjenigen, die Sterbehilfe in Anspruch nehmen wollen. Aufgrund von Verzögerungen im Verfahren oder fehlenden Protokollen für den Umgang mit einer Verweigerung aus Gewissensgründen (der Antrag muss gemäss Gesetz entgegengenommen und an die vorgesetzte Stelle weitergeleitet werden), kam es in mindestens drei Fällen zu einem unbegleiteten Suizid, zwei davon gewaltsam. Nur in einem Fall hatte das fahrlässige Verhalten Konsequenzen für die beteiligten Fachkräfte.

Glücklicherweise haben sich die Dinge im Laufe der Zeit verbessert. Jeder neue, sicher durchgeführte Fall baut Vorurteile unter den Mitarbeitenden des Gesundheitswesens ab, hilft dabei, unvorhergesehene Unebenheiten zu beseitigen, und führt zu mehr Erfahrung in den Institutionen.

Das spanische Sterbehilfegesetz liegt irgendwo zwischen den restriktivsten Gesetzen (z.B. Victoria (Australien)) und den fortschrittlicheren (z.B. Belgien). Es erlaubt die ärztlich begleitete Lebensbeendigung für unheilbar Kranke ohne Einschränkung bezüglich der noch zu erwartenden Lebenszeit und für Menschen in einem irreversiblen medizinischen Zustand, der ihre körperliche Autonomie stark beeinträchtigt. Wie bereits erwähnt, kann dies in einer Patientenverfügung festgelegt werden. Ausgeschlossen sind Minderjährige, auch solche, die andere wichtige medizinische Entscheidungen treffen dürfen, und Personen, die nicht seit mindestens einem Jahr in Spanien leben. Ausserdem sind zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen und erschwerende Schritte im Antragsverfahren festgelegt. Ein regionaler Ausschuss aus Anwälten und medizinischem Personal muss alle Anträge nach Prüfung und Zustimmung durch zwei Ärzte genehmigen, bevor die Sterbehilfe durchgeführt werden kann.

Trotz der geringen Zahl von Fällen wurde eine breite Palette von Leiden als im Rahmen des neuen Gesetzes zulässig angesehen. Es gibt Berichte über Sterbehilfe für Patienten mit Krebs im Endstadium, ALS, Multipler Sklerose, Tetraplegie, Organversagen, altersbedingten Begleiterkrankungen, der bereits erwähnten schweren Demenz, Fibromyalgie und mindestens einen Fall, in dem eine psychische Erkrankung mit anderen schweren körperlichen Leiden einherging.

Die Aufteilung zwischen Regionen, in denen die Umsetzung des Rechts auf Sterbehilfe funktioniert, und solchen, in denen dies nicht der Fall ist, ist nicht ganz eindeutig, doch eine Strategie scheint die grösste Wirkung zu haben: Einige Regionalregierungen haben eine Gruppe von Experten für Sterbehilfe eingesetzt, die damit betraut sind, Kollegen aus dem Gesundheitswesen zu unterstützen, die sich zum ersten Mal mit dem Sterbehilfeantrag eines Patienten befassen. Berichte aus diesem ersten Jahr deuten darauf hin, dass ihnen eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung des Rechts auf Sterbehilfe zukommt. Nur eine Sache hat sich als noch wichtiger erwiesen: der politische Wille der Regionalregierungen zu einer funktionierenden Sterbehilfe.

 

 

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