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FRANKREICH 
Peinliche politische Manöver zur Verhinderung eines Sterbehilfegesetzes


Trotz klarem Volkswillen und günstiger Mehrheitsverhältnisse im Parlament verhindern die konservativen Kräfte weiterhin die Legalisierung der Sterbehilfe. Gleich zwei Gesetzesvorlagen zur Regelung der Selbstbestimmung über das eigene Lebensende wurden in den letzten Monaten durch undemokratische taktische Manöver ausgehebelt. Damit reiht sich Frankreich neben Italien und dem Vereinigten Königreich in die unrühmliche Reihe von Staaten ein, deren Gesetzgeber trotz klarer Befürwortung durch die Bevölkerung und zunehmendem öffentlichem Druck sich standhaft weigert, das den Bürgerinnen und Bürgern zustehende Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Lebensende gesetzlich zu verankern.

Eine Flut von Gesetzesvorschlägen und fehlender politischer Wille

In Frankreich stehen aus den Reihen der Abgeordneten der «Assemblée Nationale» mehrere Gesetzesvorschläge zur Ermöglichung von direkter aktiver Sterbehilfe zur politischen Debatte an. Die älteste dieser Vorlagen, ein bereits im Oktober 2017 eingereichter Vorschlag des Abgeordneten Olivier Falorni [1], wurde am 8. April 2021 im Rahmen einer so genannten «niche parlamentaire» («Parlamentarische Nische») auf die Tagesordnung gesetzt. Gesetzesvorhaben, die in einer «niche parlementaire» besprochen werden, müssen am gleichen Tag zur Abstimmung kommen; dieses von Anfang an ehrgeizige Unterfangen wurde dadurch verhindert, dass eine kleine Gruppe konservativer Republikaner im Vorfeld über 3'000 (!) Änderungsanträge einreichte; am Ende der entsprechend angespannten Debatte – die aus zahllosen Kurzstatements zu den einzelnen Änderungsanträgen bestand – konnte nur über Artikel 1 des Gesetzes abgestimmt werden. Dieser wurde zwar mit grosser Mehrheit gutgeheissen, ist aber dennoch nicht mehr als eine Willenserklärung des Parlamentes, dass direkte aktive Sterbehilfe in Frankreich zugelassen werden soll.

Ob und wann diese Vorlage in der «Assemblée» im Rahmen einer regulären Sitzung behandelt wird und zur Abstimmung gelangt, ist derzeit offen. Über 300 Parlamentarier versuchten im Nachgang zur grotesken Sitzung vom 8. April 2021 über einen offenen Brief Druck zu machen auf den Präsidenten, damit das Thema möglichst noch in der laufenden Legislaturperiode abschliessend behandelt werden kann. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, der sich zu Beginn seiner Amtszeit für die Sterbehilfe ausgesprochen hatte, schweigt sich zum Thema weiterhin hartnäckig aus.

Bereits am 11. März 2021 war im Senat eine weitere, von der Senatorin Marie-Pierre de La Gontrie [2] eingereichte Gesetzesvorlage zwar mehrere Stunden lang behandelt worden. Sie war jedoch bereits vor der Senatsdebatte von der vorberatenden Kommission abgelehnt worden; die Debatte geriet darob zum politischen Schaulaufen, bei dem sich die einzelnen Parteienvertreter wortreich positionierten. Der französische Gesundheitsminister Olivier Véran stellte sich auf den Standpunkt, man habe mit den bestehenden Gesetzen bezüglich des Lebensendes [3] eine ausreichende Basis und stellte einen Ausbau der Palliativversorgung in Aussicht. Dabei ist längst bekannt, dass Palliativversorgung die Sterbehilfe nicht ersetzen kann, sondern beides eigene Wege der Leidensminderung sind, die sich gegenseitig ergänzen.

Scheinargumente und durchschaubare Manöver

Dass sich die Politik schwertut, in Sachen Sterbehilfe zu legiferieren, ist kein neues Phänomen; die Art und Weise jedoch, wie politische Manöver verhindern, dass demokratisch legitimierte Gesetzesvorlagen diskutiert werden, geschweige denn zur Abstimmung gelangen, ist mehr als bedenklich.

Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament für ein Gesetz stehen derzeit günstig – zu günstig wohl für die mehrheitlich aus den Reihen der Republikaner stammenden Gegner der Selbstbestimmung über das eigene Lebensende. Der Verdacht liegt nahe, dass ihnen die Argumente ausgegangen sind und dass es im Hinblick auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Frühling 2022 vor allem darum geht, die Parteisponsoren und die eigene Stammwählerschaft nicht zu vergraulen. Angesichts der bevorstehenden Wahlen und der Krise im französischen Gesundheitssystem, die sich durch Covid-19 nochmals deutlich verschärft hat, ist es höchst unwahrscheinlich, dass ein Gesetz noch in dieser Legislaturperiode erlassen wird.

Tabus und Schreckgespenster

Themen rund um das Lebensende sind in Frankreich politisch stets umstritten und die konservativen Kräfte aus Medizin und Bioethik haben noch immer grossen Einfluss. Zwar konnten in den letzten Jahren im Bereich der Patientenverfügung, beim Abbruch lebenserhaltender Massnahmen und bei der Palliativbehandlung gewisse Fortschritte erzielt werden [4]. Eine palliative Sedierung ist jedoch nur bei Personen erlaubt, die unmittelbar vor dem Lebensende stehen. Damit sind nach wie vor zahlreiche schwer leidende Personen vom Recht ausgeschlossen, zu einem selbst bestimmten Zeitpunkt ihr Leben auf legale und sichere Weise in Frankreich zu beenden, wenn sie dies wünschen. Sie sehen sich gezwungen, entweder den oft beschwerlichen Weg zu einer Freitodbegleitung in der Schweiz zu gehen, sich auf illegalem Weg ein Sterbemittel zu beschaffen oder einen Suizidversuch mit riskanten Methoden und Mitteln zu unternehmen; die Mehrzahl solcher Suizidversuche scheitert, mit gravierenden Folgen.

Obschon in Frankreich gemäss Umfragen über 90 Prozent der Bevölkerung [5] und über 70 Prozent der Ärzte [6] Sterbehilfe grundsätzlich befürworten, ist das Lebensende, insbesondere der Suizid, in Frankreich noch immer mit vielen Tabus belegt. Wer sein Leben beenden will, scheint grundsätzlich unter dem Verdacht zu stehen, entweder nicht urteilsfähig oder psychisch krank zu sein. Suizid ist zwar nicht verboten, doch wird bereits das Gewähren von Zugang zu Informationen über Suizidmethoden unter Strafe gestellt; eine Person, die über Suizidabsichten einer anderen Person informiert ist, diese aber nicht «rettet», kann wegen unterlassener Hilfeleistung bestraft werden, und Personen, die ihr Leben beenden wollen, können unter dem Vorwand des Lebensschutzes psychiatrisch verwahrt werden.

Das Tabu Suizid jedoch durch die Medikalisierung der Sterbehilfe, insbesondere der Aktiven Sterbehilfe, bei der ein Arzt das Leben eines Patienten durch aktive Handlung beendet, umgehen zu wollen, birgt neues Konfliktpotenzial. So wurden in den Debatten die Sterbehilfegegner nicht müde, unter anderem damit zu argumentieren, direkte aktive Sterbehilfe sei Mord. In den Augen der konservativen Kräfte will (und darf) man also über Suizid nicht reden, und direkte aktive Sterbehilfe ist eine kriminelle Handlung, deren Zulassung den Arzt zu einer Art Tötungsmonster macht. Vollkommen ausgeblendet wird auch die Tatsache, dass es sich beim selbstbestimmten Lebensende nicht um einen medizinischen Akt handelt, sondern um ein (Menschen)recht, welches vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 2011 in einem DIGNITAS-Gerichtsverfahren anerkannt wurde [7]. Angesichts dieser Ausgangslage entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet die Sterbehilfegegner immer wieder betonen, wie wichtig es sei, dass eine breite gesellschaftliche Debatte geführt wird. Diese Debatte wurde in der Bevölkerung längst geführt, ohne Schreckgespenster und Dämonisierung, und die Gesetzesvorschläge sind ein Ergebnis davon.

***

[1] https://www.assemblee-nationale.fr/dyn/15/textes/l15b0288_proposition-loi (in französischer Sprache)

[2] http://www.senat.fr/leg/ppl20-131.html (in französischer Sprache)

[3] LOI n° 2016-87 du 2 février 2016 créant de nouveaux droits en faveur des malades et des personnes en fin de vie; https://www.legifrance.gouv.fr/jorf/id/JORFTEXT000031970253?r=hMFAQjT2cS (in französischer Sprache)

[4] LOI n° 2016-87 du 2 février 2016 créant de nouveaux droits en faveur des malades et des personnes en fin de vie; https://www.legifrance.gouv.fr/jorf/id/JORFTEXT000031970253?r=hMFAQjT2cS (in französischer Sprache)

[5] http://www.dignitas.ch/index.php?option=com_content&view=article&id=70&Itemid=138&lang=fr (in französischer Sprache)

[6] http://www.dignitas.ch/index.php?option=com_content&view=article&id=70&Itemid=138&lang=fr (in französischer Sprache)

[7] EGMR Entscheid vom 20.1.2011 in der Sache Haas gegen die Schweiz http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-102940

 

 

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