DEUTSCHLAND 
Widersprüchlichkeiten in der kirchlichen Auffassung zu Suizid und Suizidhilfe

 

Replik auf: «Evangelische Theologen für assistierten professionellen Suizid» (FAZ, 10.1.2021)
gekürzte Fassung; der Originalbeitrag wurde am 8. Februar 2021 vom Humanistischen Pressedienst (hpd) veröffentlicht:
https://hpd.de/artikel/evangelische-theologen-fuer-assistierten-suizid-18971

 

Von Dr. Dr. Florian Willet, Pressesprecher von «DIGNITAS – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben» in Deutschland.

Unlängst schienen die Kirchenrepräsentanten Reiner Anselm, Isolde Karle, und Ulrich Lilie sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für eine Öffnung kirchlicher Einrichtungen gegenüber Suizidassistenz auszusprechen. Das wäre erfreulich gewesen. Wenngleich sie sich am Ende nicht in einen Widerspruch begeben hätten: Den Entzug der Grundlage geschäftsmässiger Suizidbeihilfe anzumahnen, gleich nachdem sie doch zuvor gerade für die geschäftsmässige Organisierung selbiger durch kirchennahe Organisationen plädiert hatten. Das ist ein Widerspruch.

Realitätsfremde Deutungen von Suizid

Als das Bundesverfassungsgericht § 217 StGB am 26.02.2020 für rechtswidrig erklärte, der auf Wiederholung angelegte Suizidhilfe in Deutschland kriminalisiert hatte, erteilte es dem Deutschen Bundestag keinerlei Auftrag, sich hier erneut an Gesetzen zu versuchen. Für den Fall, dass er es doch tut, hat es ihm klare Grenzen gesetzt. Es darf somit also alles so menschenfreundlich liberal bleiben, wie es seit dem Urteilsspruch der Richter ist.

Offenbar kursiert in Theologenkreisen die Behauptung, dass mit Suizid in ernstzunehmendem Umfang eine Heroisierung einhergehe, gerade wenn der Ausdruck «Freitod» Anwendung finde. Dies erläutere man doch gerne einmal den vielen Tausenden, die in Deutschland jährlich einsam und grausam, am Strick oder auf Zugschienen, sterben!

Angesichts horrender Zahlen an einsamen Suiziden, und noch viel mehr Suizidversuchen mit erschütterndsten Folgen bei Scheitern, mutet Gerede von Heroismus als reiner Zynismus an. Es gibt unzähliges affirmatives Spruchwerk, wonach das Leben eine Prüfung sei, Leid dazu gehöre, man Stärke zeigen, und sich nicht unterkriegen lassen müsse, und man nie aufgeben dürfe, auch unter Inkaufnahme starker Schmerzen. Der Tod wird seltener verherrlicht als das Leben, mit all seinen Härten und Unmenschlichkeiten.

Von Christen ist regelmässig zu hören, dass nur Gott über das Lebensende entscheiden dürfe. Ihr eigener Gott natürlich. Über die Lebensenden aller, auch der Juden, Moslems, Hindus, Atheisten und übrigen Gesellschaftsmitglieder. Das ist ein Angriff auf Religionsfreiheit, wenn nicht gar eine Kriegserklärung an andersartig religiös Gläubige.

Gesellschaftlicher Fortschritt vs. christliche Dogmen

Nahezu jeder signifikante Fortschritt in Sachen Menschlichkeit im Laufe von zweitausend finster ideologischen Jahren musste gegen den Widerstand von insbesondere christlichen Religionsdogmen erkämpft wurde, gerade indem mutige Menschen gegen Kirchengebote verstiessen, und damit anderen den Mut verschafften es gleichzutun. Wie schon gegen Ehescheidung, Homosexualität, Schwangerschaftsabbruch, und vieles mehr, werden die christlichen Kirchen ihre feindselige Haltung gegen Selbstbestimmung über das Lebensende aufgeben müssen. Da stellt sich doch gleich die Frage, warum Staat und Gesellschaft nicht gleich komplett die Kirchen aufgeben sollten.

Dass assistierter Suizid zur gesellschaftlichen Normalität wird, deutet sich nicht an, wäre aber auch kein Schreckensszenario. Was im Endeffekt empirische Normalität wird, entscheiden in einer liberalen Gesellschaft keine Technokraten und keine Moralideologen, sondern Menschen in der Akkumulation ihrer jeweils selbstbestimmten Entscheidungen. Planwirtschaftler und Autokraten planen gesellschaftliche Entwicklungen vom Ende her, und zwingen Menschen das zu dessen Eintritt Erforderliche einzuhalten. Liberale lassen sich hingegen davon überraschen, zu welchem Ergebnis sich individuelle Selbstbestimmung am Ende aufaddiert.

Enttabuisierung statt Pflichtberatung

Manche fordern, dass suizidgewillte Personen Pflichtberatungsangebote wahrnehmen; und eine Unbedenklichkeitsprüfung bei einem Arzt über sich ergehen lassen müssten. Doch wer die Situation schon immer unangenehm fand, von anderen ungebeten bewertet zu werden, der wird sich auch am Lebensende keiner Persönlichkeitsprüfung unterwerfen. In der grundsätzlichsten und selbstverständlichsten Frage von Selbstbestimmung, über die sensibelste aller Freiheitsangelegenheiten, eine Pflichtberatung aufsuchen zu müssen, kann auch als grösste aller Demütigungen empfunden werden. Eine Beratung erfordert einer Person inspirierende Perspektiven aus sämtlichen Weltanschauungen nahezubringen. Würde dies «Gemeindepfarrern» und christlichen «Seelsorgern» überlassen, wäre eine einseitige Beschallung mit Auffassungen aus der Echokammer christlicher Weltsicht zu erwarten.

Das spricht gerade gegen eine Einbeziehung von Kirchen in Suizidassistenz. Christliche Moral hat keinerlei inhaltlich legitimierte Autorität über Andersgläubige. Entweder haben die sich anderen Autoritäten unterworfen, oder sie denken selbst. Ärzte tragen im Übrigen bereits mehr als genug Arbeitslast und Verantwortung. Ihnen noch mehr aufzulasten, ist unverantwortlich. Erwachsenen Bürgern ist dabei Freiverantwortlichkeit ganz standardmässig zu unterstellen. Ärzte haben sie nicht aktiv zu beurteilen. Lediglich bei Auftreten von Indizien auf Nichtvorliegen von Freiverantwortlichkeit hat ein Arzt von der passiven Beobachtung zur Benennung überzugehen.

Selbstbestimmung ist in der Tat stets gefährdet, Suizidhilfeorganisationen haben umfangreiche Erfahrung damit, dass Menschen an sie herantreten, die erzählen, dass sie bei Äusserung ihres Suizidwillens im Kreise der Familie mit Widerspruch und Vorwürfen zu rechnen hätten, dass sie sich mit niemandem tabufrei unterhalten können, das Risiko von Stigmatisierung und Ausgrenzung spüren, und dass sie darunter erheblich leiden. Hier vollzieht sich sehr viel stilles Leid hilfsbedürftiger Menschen. Die Befürchtung, Angehörige moralisch zu empören, oder durch Suizidverwirklichung gar die Reputation der Familie zu beschädigen, belastet zahlreiche hochbetagte und schwerkranke Menschen, die sich so in einem Dilemma sehen. Hier ist Menschen zu helfen. Nicht ihnen eine Pflichtberatung aufzunötigen.

 

 

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