Prinzipien / Philosophie

Philosophisch und politisch beruht die Tätigkeit von DIGNITAS auf den grundlegenden Werten, welche den schweizerischen Staat seit der Gründung des modernen Bundesstaates, wie er 1848 geschaffen worden ist, ausgemacht haben, und der seitherigen Weiterentwicklung dieser Werte auf nationaler und internationaler Ebene.

Ausgangspunkt ist somit die liberale Haltung, dass im freiheitlichen Staate dem Privaten jegliche Freiheit zusteht, solange deren Inanspruchnahme keine öffentlichen Interessen und keine berechtigten Interessen Dritter schädigt. Diese Werte sind:

  • der Respekt vor dieser Freiheit und der Selbstbestimmung des Einzelnen im Sinne eines aufgeklärten Citoyens;
  • die Verteidigung von Freiheit und Selbstbestimmung gegen Dritte, welche diese aus irgendwelchen Gründen, seien sie weltanschaulich, religiös oder politisch, einzuengen versuchen;
  • die Menschlichkeit, die auf staatlicher und internationaler Ebene im Laufe unserer Geschichte als wohl leuchtendstes Beispiel zur Grün­dung des Roten Kreuzes geführt hat, um unmenschliche Leiden wenn möglich zu verhindern oder zu lindern;
  • die Solidarität gegenüber den Schwächeren, insbesondere auch im Kampfe gegen entgegenstehende materielle Interessen Dritter;
  • die Verteidigung der Pluralität als Garant für die stete Weiterentwicklung der Gesellschaft aufgrund des freien Wettbewerbs der Ideen;
  • das Prinzip der Demokratie, in Verbindung mit der Garantierung und der steten Weiterentwicklung der Grundrechte.

1.) Respekt vor der Freiheit des Individuums

Der Respekt vor der Freiheit des Individuums im Sinne eines aufgeklärten, sich verantwortlich fühlenden Staatsbürgers (eines «Citoyens» im Sinne des 2008 verstorbenen Basler Staatsphilosophen ARNOLD KÜNZLI; in seinem Aufsatz «Bourgeois und Citoyen: Das Doppelgesicht unserer Gesellschaft, in: Michael Haller, Max Jäggi,. Roger Müller (Hrsg.), Eine deformierte Gesellschaft, Die Schweizer und ihre Massenmedien, Basel 1981, S. 299 ff.) zeigt sich unter anderem nicht zuletzt auch darin, dass das heute geltende positive Recht – im Unterschied zu früheren Rechten – den Suizidversuch nicht mehr bestraft.

Was Gertrud, die Gemahlin des Werner Stauffacher in Schillers grossartigem Freiheitsepos «Wilhelm Tell», als Freiheit empfunden hat – «Ein Sprung von dieser Brücke macht mich frei!» –, das steht heute jedem Einwohner der Schweiz ganz selbstverständlich zu.

2.) Freiheit von Vorstellungen Dritter

Ebenso klar ist, dass jeder Person auf schweizerischem Staatsgebiet die Freiheit zukommt, ihr Leben unabhängig von den individuellen weltanschaulichen, religiösen oder anderen Vorstellungen Dritter leben zu dürfen.

Da hat weder der Muslim dem Christen, Juden oder Buddhisten, der Christ dem Juden oder einem Andersgläubigen, aber auch ein gläubiger Mensch dem ungläubigen Menschen – auch nicht auf dem Umweg über eine staatliche Vorschrift – seine individuelle weltanschauliche, religiöse oder politische Auffassung aufzuoktroyieren oder auch nur den Versuch dazu zu unternehmen.

Der Staat hat hier Garant der pluralistischen Gesellschaft zu sein und alles zu unterlassen, was diesen Pluralismus im Interesse einer bestimmten weltanschaulichen Auffassung einengen oder in eine bestimmte Richtung dirigieren würde.

3.) Menschlichkeit

Im Bereich der Frage, ob einem sterbewilligen Menschen dabei Hilfe zu leisten sei, ist die Menschlichkeit das absolut Zentrale.

Der Begriff der Menschlichkeit ist zwar an sich unscharf; dennoch spielt er beispielsweise im «Genfer Gelöbnis», welches die Generalversammlung des Weltärztebundes 1948 verabschiedet und 2006 zuletzt bestätigt hat, eine wichtige Rolle.

Dieses Gelöbnis nimmt zwar keinen Bezug auf den ärztlich assistierten Suizid. Aber es beginnt mit der Formulierung:

«Ich gelobe feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.»

Das Gelöbnis enthält weiter als letzten Satz:

«Ich werde jedem Menschenleben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht im Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden.»

Da es jedoch erfahrungsgemäss schwierig ist, die unbestimmten Begriffe Menschlichkeit, Ehrfurcht oder auch Würde als solche zu interpretieren, hilft letztlich nur die Entscheidung weiter, sich anstelle einer solchen Interpretation zu überlegen, welches denn die eigentliche Aufgabe der Medizin sei.

Der deutsche Medizinethiker EDGAR DAHL vom Klinikum Giessen formuliert diese wie folgt (in seinem Aufsatz «Im Schatten des Hippokrates / Assistierter Suizid und ärztliches Ethos müssen sich nicht widersprechen», erschienen in «Humanes Leben – Humanes Sterben, 4/2008, S. 66-67):

«Die Medizin setzt sich bekanntlich vor allem aus Prävention, Diagnostik und Therapie zusammen. Das heißt, sie sucht Krankheiten vorzubeugen, Krankheiten zu erkennen und Krankheiten zu behandeln. Daraus könnte man schlussfolgern, dass die Aufgabe der Medizin darin bestehe, die Gesundheit der Menschen zu erhalten. Tatsächlich heißt es im Genfer Gelöbnis denn auch: „Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein.“ So einleuchtend diese Auffassung zunächst auch erscheinen mag, ist sie doch unvollständig. Wie uns insbesondere ein Blick auf die Palliativmedizin zeigt, beschränkt sich die Tätigkeit der Ärzte keineswegs auf die Erhaltung der Gesundheit. Palliativmediziner sorgen sich beispielsweise Tag und Nacht um Menschen, deren Gesundheit sich nicht wiederherstellen lässt.

Es scheint daher viel angemessener zu sein, die Aufgabe der Medizin in der Linderung menschlichen Leids zu sehen. In dieser Auffassung werden wir noch bestärkt, wenn wir uns fragen, warum sich die Medizin eigentlich der Vorbeugung, Erkennung und Behandlung von Krankheiten widmet. Der Kampf gegen die Krankheit ist ja kein Selbstzweck. Vielmehr wird dieser Kampf unternommen, um uns vor den körperlichen und seelischen Leiden zu bewahren, die mit Erkrankungen einherzugehen pflegen.

Bei der Erfüllung ihrer Aufgabe, das Leid der Menschen zu lindern, ist die Medizin allerdings stets an die Achtung vor der Selbstbestimmung des Menschen gebunden. Niemand darf einen Patienten gegen dessen Willen behandeln. Dass Ärzte medizinische Maßnahmen nur mit ausdrücklicher Einwilligung einleiten oder beenden dürfen, ist denn inzwischen auch allgemein anerkannt. Ob beispielsweise eine lebensverlängernde Maßnahme eingeleitet oder abgebrochen wird, hängt immer und ausschließlich von der Zustimmung des betroffenen Patienten ab.

Wenn sich das ärztliche Ethos, wie gerade ausgeführt, auf der Linderung von Leid und der Achtung vor der Selbstbestimmung gründet, dürfte es offenkundig sein, dass es mit dem assistierten Suizid durchaus vereinbar ist. Denn ein Arzt, der einem terminal erkrankten Patienten die Bitte erfüllt, auf eine weitere Therapie zu verzichten und ihm ein tödliches Medikament zu verschreiben, lindert seine Leiden und achtet seine Selbstbestimmung

Eine Politik, die darauf abzielt, jeden Suizid nach Kräften zu verhindern, ohne auf den Willen des betroffenen Menschen Rücksicht zu nehmen, verletzt die Menschlichkeit. Wer Menschen auf diese Weise dazu zwingt, die Herbeiführung des eigenen Todes durch gewaltsame Mittel zu suchen, und dabei unmenschliche Risiken in Kauf zu nehmen, handelt unmenschlich.

Ist es denn menschlich, einem Menschen zuzumuten, zur Verwirklichung seines Willens zu tun, was ein in England lebender Interessent 2008 per E-Mail an DIGNITAS berichtet hat, und in Kauf zu nehmen, was die Konsequenz daraus war?:

«Dear Dignitas.

My name is J.(xx) H.(xx). I am 19 years old, and live in Scotland, UK.

About 2 months ago I attempted to commit suicide by jumping off a multi storey car park. My attempt failed, and instead of dying, I write this email to you from my hospital bed.

I crushed both of my feet, broke my leg, broke my knee, broke my sacrum (part of my pelvis) and most devastatingly, broke my spine, in 3 places, which has resulted in a degree of paralysis in my legs. I spent 6 weeks in hospital in my home town of Edinburgh, and was then transferred to a special spinal rehabilitation hospital in Glasgow.

I am told that I will need to spend 6 months at this hospital, and that I will be in a wheelchair for the rest of my life. I now have a loss of sexual function, which seems unlikely to return, as well as huge problems managing my bowels and bladder (I cannot feel them moving).

I was already suicidal, and now that I will be disabled for the rest of my life, at such a young age, I truly cannot bear the prospect of life. I am only 19, and I now have the grim reality of 60 years in a wheelchair. The physical pain I am in alternates between bearable and completely unbearable. Perhaps the pain will ease off with time, but this is not a certainty. There are times every day where I scream with pain, due to being moved in bed, hoisted into the wheelchair etc.

I would like to ask if I could be considered for an assisted suicide, as I am completely certain I would like to end my life, and believe I should have the right to do so.

I would be too afraid to try and kill myself again, given the devastating effects of my first failed attempt. It would also be much more difficult to attempt suicide from a wheelchair. I only wish that my country was humane enough to let a person die.

Please consider my letter, I hope to hear a response,

J(xx) H.(xx)»

Das heisst in deutscher Übersetzung:

«Liebe Dignitas. Ich heisse J.(xx) H.(XX). Ich bin 19 Jahre alt und lebe in Schottland, Vereinigtes Königreich.

Vor etwa 2 Monaten habe ich versucht, Suizid zu begehen, indem ich von einem mehrstöckigen Parkhaus gesprungen bin. Mein Versuch scheiterte, und anstatt zu sterben, schreibe ich Ihnen nun dieses E-Mail aus meinem Spitalbett.

Ich zerschmetterte meine beiden Füsse, brach mein Bein, brach mein Knie, brach mein Kreuzbein (Teil meines Beckens) und, am meisten zerstö­rend, brach meine Wirbelsäule an drei Stellen, was zu einem Lähmungs­zustand in meinen Beinen geführt hat. Ich verbrachte 6 Wochen im Kran­kenhaus in meiner Heimatstadt Edinburgh, und wurde dann in eine spe­zialisierte Wirbelsäulen-Re­ha­bi­li­ta­tionsstation in einem Spital in Glas­gow verlegt.

Man hat mir mitgeteilt, dass ich 6 Monate in diesem Krankenhaus ver­bringen müsse, und dass ich für den Rest meines Lebens im Rollstuhl sitzen werde. Ich beklage sowohl den Verlust meiner Sexualfunktion, deren Wiedererlangung unwahrscheinlich ist, als auch ein schwerwiegendes Problem, meinen Darm und meine Blase zu kontrollieren (ich spüre ihre Bewegungen nicht).

Ich war bereits suizidal, und nun werde ich für den Rest meines Lebens, in solch jugendlichem Alter, behindert sein; ich kann diese Aussicht auf mein Leben nicht ertragen. Ich bin nur 19 Jahre alt und sehe mich vor der grausamen Wirklichkeit von 60 Jahren im Rollstuhl. Der körperliche Schmerz, den ich spüre, wechselt zwischen erträglich und vollständig unerträglich. Vielleicht werden sich die Schmerzen mit der Zeit bessern, doch besteht dafür keine Gewissheit. Täglich schreie ich vor Schmerz zu bestimmten Zeiten, weil ich zu Bett gebracht oder in den Rollstuhl gehoben werde, etc.

Ich möchte fragen, ob ich für einen begleiteten Suizid in Frage komme, da ich vollkommen sicher bin, dass ich mein Leben beenden will, und ich glaube, ich sollte das Recht haben, dies zu tun.

Ich hätte zu sehr Angst davor, selbst einen erneuten Versuch zu unternehmen mich zu töten angesichts der zerstörerischen Ergebnisse meines ersten misslungenen Versuchs. Es wäre auch viel schwieriger, einen Suizidversuch im Rollstuhl zu unternehmen. Ich wünsche nur, dass mein Land menschlich genug wäre, eine Person sterben zu lassen.

Bitte ziehen Sie meinen Brief in Betracht; ich hoffe, eine Antwort zu erhalten.

J.(xx) H.(xx)»

Der Autor dieser jeden fühlenden Menschen erschütternden Botschaft hat bisher nicht mitgeteilt, welches denn sein Problem war, das ihn ursprünglich hat suizidal werden lassen.

Sicher ist jedoch eines: Hätte er, nachdem er suizidal geworden war, die Möglichkeit gesehen, sich mit anderen Menschen über sein Problem auszutauschen, ohne befürchten zu müssen, sofort in ein psychiatrische Anstalt eingeliefert zu werden, wäre sein Schicksal höchst wahrscheinlich anders verlaufen. Man hätte versucht ihm zu zeigen, dass es für sein Problem auch andere Lösungen als den Suizid gibt, so dass er eine reale Chance gehabt hätte, dieses Grundproblem zu lösen, ohne Gewalt gegen sich selber auszuüben. Dann hätte er keine Risiken in Kauf nehmen müssen, die sich nun bei ihm in dieser verheerenden Weise verwirklicht haben. Unter menschlichen Bedingungen solcher Art hätte er wohl eine echte Chance gehabt, seine Suizidalität überwinden zu können.

Man muss sich insbesondere in diesem Zusammenhang auch fragen, weshalb es denn ethisch geboten ist, ein schwer leidendes Tier zu töten, es einem schwerst leidenden Menschen aber unmöglich zu machen, sein Leben selbst zu beenden, ohne dabei unerhörte Risiken des Scheiterns und der zusätzlichen Selbstschädigung in Kauf nehmen zu müssen. Welche ab­strusen Vorstellungen führen dazu, das, was Menschen einem leidenden Tier gegenüber menschlich handeln heisst, gegenüber einem leidenden Menschen für unethisch zu erklären, zumal sich ja ein Tier nicht mittels menschlicher Sprache äussern kann, ein Mensch hingegen seinen Willen klar kundtun kann?

4. Solidarität im Interesse der Schwächeren

Solidarität, insbesondere in Bezug auf Menschen, die zu den Schwächeren gezählt werden und unter Umständen trotz entgegenwirkender oft pekuniär ins Gewicht fallender Interessen Dritter ihre Freiheit bewahren möchten, ist eine der grundlegenden Qualitäten schweizerischen Gemeinsinns.

Das Prinzip «Einer für alle, alle für einen» erzielt seine volle Auswirkung aber nicht in den engen Grenzen dessen, was der Staat an Solidarität durch von ihm geschaffene Gesetze direkt bewirkt, sondern erst auf dem weiten Feld der gesellschaftlichen Solidarität in der Zivilgesellschaft, also der Zuwendung bestimmter Menschengruppierungen in Richtung auf andere Gruppen, die besonderer Hilfe bedürfen.

5. Pluralität

Ebenso wesentlich ist die Verteidigung des pluralistischen Systems, welches allein gewährleistet, dass der freie Wettbewerb der Ideen und damit die Weiterentwicklung der Gesellschaft möglich blei­ben.

6. Demokratie und Grundrechte

Weitere wesentliche Grundlage unseres Zusammenlebens sind die Prinzipien von Demokratie innerhalb dessen, was nicht durch die Grundrechte dem Individuum zu ureigener Entscheidung überlassen bleibt.

In diesem Zusammenhang sei auf die repräsentative Umfrage zum Thema der Beihilfe zum Suizid hingewiesen, welche ergeben hat, dass 75 Prozent der evangelischen Bevölkerung und 72 Prozent der römisch-katholischen Bevölkerung die Möglichkeit des begleiteten Suizids für sich reklamiert und somit bejaht (in «Reformiert.» vom 29. August 2008; GALLUP TELEOmnibus Befragung vom 3. – 12. Juli 2008 durch ISOPUBLIC, Schwerzenbach, im Internet: (pdf)

7. Der Bürger ist nicht Objekt des Staates

Schliesslich ist auch darauf hinzuweisen, dass die Menschen, die einen Staat bevölkern, niemals zu Objekten des Staates herabgewürdigt werden dürfen. Sie sind Träger der menschlichen Würde, und diese kommt am ausgeprägtesten dort zum Ausdruck, wo ein Mensch sein Schicksal selbst bestimmt. Es kann demnach nicht in Frage kommen, dass der Staat oder einzelne seiner Behörden oder Instanzen das Schicksal des Citoyens bestimmen.

 

Philosophisch-politische Grundlage der Tätigkeit von DIGNITAS als pdf, ab Seite 22 in der Broschüre «So funktioniert DIGNITAS»

 

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