FRANKREICH
Freiverantwortlichkeit am Lebensende: Abschreckungstaktik und volksferne Politik – ein kritischer Kommentar


Im Bereich der Selbstbestimmung bezüglich des eigenen Lebensendes hat sich in den letzten Jahren in den Nachbarländern der Schweiz einiges bewegt. In Deutschland wurde im Februar dieses Jahres in einem bemerkenswerten Urteil des Bundesverfassungsgerichts das seit 2015 geltende Verbot der «geschäftsmässigen Förderung der Suizidhilfe», also der wiederholten und somit professionell unterstützten Suizidhilfe, aufgehoben. In Österreich befasst sich die Justiz demnächst mit einer Verfassungsbeschwerde von DIGNITAS, die das Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende einfordert. In Italien konnte in zwei Gerichtsverfahren und aufgrund eines Urteils des Verfassungsgerichts erreicht werden, dass Suizidhilfe für unheilbar kranke Menschen, die unerträglich leiden, unter bestimmten Voraussetzungen nicht mehr strafbar ist.

In Frankreich hingegen kommt die Freiheit kaum vom Fleck. Zwar konnten in den letzten Jahren im Bereich der Patientenverfügung, beim Abbruch lebenserhaltender Massnahmen und bei der Palliativbehandlung gewisse Fortschritte erzielt werden. Mit der Suizidhilfe oder der direkten aktiven Sterbehilfe tut sich das Land aber noch immer schwer. Gesetzesvorschläge diverser Organisationen und Aktivistengruppen haben bisher nicht zum Ziel geführt.

Ein Grundproblem des heutigen politischen und öffentlichen Diskurses in Frankreich ist die häufige Einengung des Themas auf die direkte aktive Sterbehilfe (welche in der Schweiz und in Deutschland nicht erlaubt ist), den medizinischen Bereich und auf Fälle von schwer kranken Menschen, die kurz vor ihrem Lebensende stehen. Das ist einigermassen erstaunlich in einem Land, das sich Säkularität auf die Fahne schreibt und in welchem Freiheit propagiert wird. Kaum je werden im politischen und öffentlichen Diskurs die persönliche Freiheit der Bürgerinnen und Bürger bezüglich der Beendigung des eigenen Lebens und die Pflichten des Staates zur Garantie dieses Rechtes diskutiert.

Ein Blick in die französische Gesetzgebung zeigt, dass das selbstbestimmte Lebensende, insbesondere der Suizid, noch immer mit vielen Tabus belegt ist. Wer sein Leben beenden will, scheint grundsätzlich unter dem Verdacht zu stehen, entweder nicht urteilsfähig oder psychisch krank zu sein. Suizid ist zwar nicht verboten, doch wird das Gewähren von Zugang zu Informationen über Suizidmethoden unter Strafe gestellt; eine Person, die über Suizidabsichten einer anderen Person informiert ist, diese aber nicht «rettet», kann wegen unterlassener Hilfeleistung bestraft werden und Personen, die ihr Leben beenden wollen, können unter dem Vorwand des Lebensschutzes psychiatrisch verwahrt werden.

Diese Tabuisierung ist höchst problematisch. Sie beschneidet in paternalistischer Weise die Selbstbestimmung und die Freiverantwortlichkeit der Bürgerinnen und Bürger und verhindert eine ergebnisoffene Beratung in Fragen des eigenen Lebensendes. Suizidverhinderung um jeden Preis also, ohne Prüfung der individuellen Bedürfnisse. Damit wird eine offene gesellschaftliche Debatte über ein tatsächlich selbstbestimmtes Lebensende so gut wie verunmöglicht. Das von volksfernen Politikern regierte Land umschifft das Thema konsequent und mit allen Mitteln. Das Thema Lebensbeendigung wird – ähnlich wie in Italien – als medizinisch-moralisches Problem an Bioethikgremien delegiert, orientieren tut man sich in Frankreich am Modell der direkten aktiven Sterbehilfe wie sie in Belgien seit 2002 praktiziert wird; Erfahrungen aus anderen Ländern wie Kanada und der Schweiz werden ignoriert.

Das eigene Leiden und Leben zu beenden und hierfür professionelle Hilfe zu nutzen ist jedoch in erster Linie eine Frage der Freiheitsrechte des Menschen. So wie dies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2011* und das Bundesverfassungsgericht in Deutschland im Februar 2020** bestätigten. Dieser Aspekt wird in Frankreich noch viel zu selten diskutiert. Personen und Organisationen, die sich öffentlich für dieses Recht und diese Freiheit, insbesondere für Suizidhilfe, einsetzen, werden von den Behörden mit Misstrauen betrachtet. Ende 2019 fanden in Frankreich bei über 100 Privatpersonen, die im Internet Nembutal (ein Handelsname für das auch in der professionell begleiteten Suizidhilfe eingesetzte Medikament Natrium-Pentobarbital) gekauft hatten, Hausdurchsuchungen statt. Offiziell war dies Teil einer internationalen Aktion zur Unterbindung eines aus den USA betriebenen illegalen Medikamentenhandels. Ebenfalls wurden die Räumlichkeiten von «Ultime Liberté», einer Organisation, die sich seit vielen Jahren für das selbstbestimmte Lebensende einsetzt, durchsucht und diverse Daten und Unterlagen beschlagnahmt.

Die Aktion ist exemplarisch für die fehlende Freiheit bezüglich des eigenen Lebensendes, die fehlende Bereitschaft sich mit dem Thema zu befassen und die Abschreckungstaktik der Behörden. Ein Grossteil der von den Durchsuchungen betroffenen Privatpersonen waren ältere Menschen, die nichts weiter wollen, als selber zu entscheiden, wann ihr Leben enden soll, und die dies auf sichere Art und Weise tun wollen. Sie wissen, dass sie in Frankreich diese Möglichkeit nicht haben und wollen sich vernünftigerweise nicht dem Risiko eines gescheiterten Suizidversuchs aussetzen. Der Staat und seine Verbote berauben sie ihrer Wahlfreiheit und begünstigt damit den illegalen Medikamentenhandel, den er zu bekämpfen vorgibt.

Angesichts der derzeitigen Lage wird noch einige Zeit verstreichen, bis Frankreich mit anderen Ländern zumindest gleichzieht. Der Weg über die Gerichte ist zwar lang; dennoch dürfte er die einzige Möglichkeit darstellen, auch in Frankreich das Recht des Menschen durchzusetzen, über Art und Zeitpunkt seines Lebensendes selbst zu entscheiden. Dazu braucht es – wie das Beispiel Italien zeigt – couragierte Organisationen, Politiker und Rechtsanwälte, die den Gang durch die Justizinstanzen, notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, nicht scheuen. Die Bevölkerung steht auf ihrer Seite wie Umfragen zeigen. Die Politik und die bioethischen Gremien wären indes gut beraten, sich bei der Ausarbeitung und Beurteilung allfälliger Gesetzesentwürfe an der internationalen Rechtsprechung und den verfassungsmässigen Rechten der Bürgerinnen und Bürger zu orientieren und die Praxiserfahrung anderer Länder beizuziehen, in denen Suizidhilfe erlaubt ist.

***

* Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 20. Januar 2011, Nr. 31322/07, HAAS gegen die Schweiz; http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-102939

** BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 -, Rn. 1-343 http://www.bverfg.de/e/rs20200226_2bvr234715.html

 

 

 

 

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