NIEDERLANDE
Gerichtsurteil: Aktive Sterbehilfe für Demenzkranke grundsätzlich zulässig


Gastbeitrag von Frank van der Hoek*

Am 21. April 2020 fällte die Strafkammer des Obersten Gerichtshofs der Niederlande ein interessantes Urteil über die Rechtmässigkeit der Aktiven Sterbehilfe (Lebensbeendigung auf Verlangen) an einer dementen Frau. Der Oberste Gerichtshof entschied, dass der Arzt mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt hatte und gab Anweisungen zu Fragen der Aktiven Sterbehilfe bei Demenz.

Das «Gesetz über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung», auch als «Sterbehilfegesetz» bekannt, ist in den Niederlanden seit 2002 in Kraft. Das Gesetz kodifiziert frühere Gerichtsurteile zur Aktiven Sterbehilfe. Die Umsetzung der Rechtsprechung zur Aktiven Sterbehilfe in die Gesetzgebung war nützlich und notwendig zur demokratischen Legitimierung.

Das Gesetz legt kurz gesagt fest, dass ein Arzt, der Aktive Sterbehilfe leistet, keine Straftat begeht, wenn er:

a. sich davon überzeugt hat, dass der Antrag des Patienten auf Sterbehilfe freiwillig und wohlerwogen erfolgt ist,

b. sich davon überzeugt hat, dass das Leiden des Patienten unerträglich ist und keine Aussicht auf Besserung besteht,

c. den Patienten über seine Situation und die weitere Prognose informiert hat,

d. die Situation mit dem Patienten erörtert hat und gemeinsam mit ihm zum Schluss gelangt ist, dass es keine andere annehmbare Lösung gibt,

e. mindestens einen Arzt ohne Verbindung zum Fall konsultiert hat, der dann den Patienten gesehen und schriftlich erklärt hat, dass der behandelnde Arzt die in den vier oben genannten Punkten aufgeführten Sorgfaltskriterien erfüllt hat; und

f. bei der Beendigung des Lebens des Patienten oder bei der Suizidhilfe die gebührende medizinische Sorgfalt und Aufmerksamkeit walten lässt.

Jeder Fall von Aktiver Sterbehilfe wird nachträglich von einem eigens dafür zuständigen nationalen Überprüfungsausschuss beurteilt, der in regionale Ausschüsse unterteilt ist. Diese sind multidisziplinär zusammengesetzt und bestehen aus einem Arzt, einem Ethiker und einem Juristen als Vorsitzenden, der von einem Sekretär unterstützt wird. Stellt ein Ausschuss fest, dass der Arzt mit der gebotenen Sorgfalt und in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Normen gehandelt hat, wird der Fall abgeschlossen. Wenn der Arzt seine Sorgfaltspflicht vernachlässigt hat, wird der Ausschuss dies nach Anhörung des Arztes eingehend erörtern. Die Angelegenheit wird dann an die staatliche Aufsichtsbehörde für das Gesundheitswesen und an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Diese können den Arzt strafrechtlich verfolgen, aber sie können den Fall auch abweisen, gegebenenfalls auch unter Auflagen.

Praxis

Das geltende Gesetz funktioniert in der Praxis gut. Ärzte, Patienten und Familie wissen, woran sie sind. Im Jahr 2018 gab es gemäss der jüngsten statistischen Veröffentlichung 6’126 Fälle von Aktiver Sterbehilfe, was vier Prozent aller registrierten Todesfälle entspricht; das ist ein Rückgang gegenüber 2017, als es 6’585 Fälle gab. In weniger als einem Prozent der Fälle war der Ausschuss der Ansicht, der Arzt habe seine Sorgfaltspflichten vernachlässigt. Daraus kann geschlossen werden, dass die gesetzlichen Normen bekannt sind und ordnungsgemäss angewendet werden. Seit 2003 kam es nur in einem Fall zu einem Strafprozess. Der Ausschuss hält die wichtigsten Erkenntnisse in einem Register fest und unterhält einen so genannten «Sterbehilfe-Kodex» mit Richtlinien für die praktische Anwendung.

Dennoch kann es nicht überraschen, dass sich manche Fälle im Grenzbereich der Anwendung des Gesetzes befinden, dies insbesondere in Fällen Aktiver Sterbehilfe für psychisch kranke oder demente Patienten. In absoluten Zahlen betrifft dies nur ein paar Dutzend Fälle pro Jahr, doch diese führen oft zu Diskussionen zwischen entgegengesetzten Ansichten. Auf der einen Seite wird mit dem (Menschen-)Recht auf Selbstbestimmung argumentiert; auf der anderen Seite wird aufgrund einer bestimmten Weltanschauung oder Lebensphilosophie argumentiert. Oder es besteht Uneinigkeit hinsichtlich der (Un-)Möglichkeit einer weiteren Behandlung, hinsichtlich der Urteils(un)fähigkeit oder einer (un)freien Entscheidungsfindung, zum Beispiel unter Einfluss von Familienmitgliedern oder Pflegepersonen.

Der Fall

Die Patientin war eine zum Zeitpunkt ihres Todes 74-jährige Frau. In einer schriftlichen Erklärung von 2012, die 2015 bestätigt wurde, hatte sie unter anderem festgehalten: «Ich möchte von dem gesetzlichen Recht Gebrauch machen, bei mir Aktive Sterbehilfe zu leisten, wenn ich denke, dass die Zeit dafür reif ist. Ich möchte auf keinen Fall in eine Einrichtung für ältere Menschen mit Demenz aufgenommen werden. Ich möchte mich rechtzeitig und würdig von meinen lieben Nachbarn verabschieden». Die Patientin wurde im Dezember 2015 wegen fortgeschrittener Alzheimer-Krankheit in ein Pflegeheim eingewiesen. Die Krankenakte enthält folgende Angaben: «Die meiste Zeit des Tages zeigt die Patientin Anzeichen von Aufregung, Unruhe, Stress, Angst, Traurigkeit, Wut und Panik. Sie weint sehr viel, sagt oft, dass sie es hasst und dass es unerträglich ist, und fast täglich (bis zu 20 Mal am Tag) sagt sie, dass sie sterben möchte. Ihr Tag-Nacht-Rhythmus ist gestört, und sie wandert fast jeden Tag durch die Korridore, auch nachts. Sie klopft an Fenster und Türen, bis ihre Hände schmerzen. Sie spricht willkürlich Patienten an, in dem Glauben, sie seien Bekannte. Dies führt regelmässig zu Handgreiflichkeiten mit anderen Patienten. Es besteht auch ein Verlust an körperlicher Selbstpflege, bedingt durch grosse Abhängigkeit und Inkontinenz».

Doch im Pflegeheim machte die Patientin unterschiedliche Aussagen: Manchmal sagte sie, dass sie sterben wolle, manchmal, dass sie nicht sterben wolle. Im April 2016 beendete die Ärztin des Pflegeheims das Leben der Patientin durch Aktive Sterbehilfe. Sie hatte dies ausführlich mit Familie und Ärzten der Patientin besprochen, jedoch nicht mit der Patientin selbst, da die Krankheit dies unmöglich machte. Die Ärztin hatte der Patientin vor der Durchführung der Aktiven Sterbehilfe ein Schlafmittel in den Kaffee getan. Während der Durchführung wachte die Patientin auf, machte Abwehrgesten und die Familie hielt sie fest.

Im Jahr 2016 entschied der Überprüfungsausschuss, dass die Beendigung des Lebens der Patientin durch die Ärztin unsorgfältig gewesen sei. Zusammenfassend argumentierte der Ausschuss, dass die schriftliche Patientenverfügung nicht eindeutig und nicht zweifelsfrei sei. Darüber hinaus hätte die Ärztin nicht heimlich ein Schlafmittel geben dürfen und sich dem Widerstand der Patientin fügen müssen. In den Regionalausschüssen wurde über diese Stellungnahme viel diskutiert. Die Staatsanwaltschaft entschied daraufhin, die Ärztin wegen Mordes anzuklagen. Dies geschah zum ersten Mal seit dem Inkrafttreten des Euthanasiegesetzes, und der Fall schlug bei den Ärzten, in den Medien und in der Gesellschaft hohe Wellen.

Im September 2019 entschied eine erste Gerichtsinstanz, dass es sich streng genommen um Mord im strafrechtlichen Sinne handle, die Ärztin aber nicht zu bestrafen sei, weil sie die im Sterbehilfegesetz vorgeschriebene Sorgfaltspflichten eingehalten habe. Auf der Grundlage der Befunde des Hausarztes, des Geriaters, der beiden unabhängigen Ärzte, des Ehemannes, der Tochter und ihrer eigenen Befunde wurde festgehalten, dass die Ärztin davon ausgehen konnte, dass die Patientin zum Zeitpunkt der Erstellung des Antrags auf Sterbehilfe und der darin enthaltenen Verfügungen bezüglich Demenz urteilsfähig war. Darüber hinaus wurde die Auffassung vertreten, dass die schriftlichen Äusserungen der Patientin dahingehend interpretiert werden konnten, dass sie bei der Aufnahme in ein Pflegeheim wegen fortgeschrittener Demenz ihr Leben beenden lassen wolle. Nach dem Urteil gelangte der Fall in einem verkürzten Verfahren direkt vor den Obersten Gerichtshof.

Das Urteil des Obersten Gerichtshofs

Der Oberste Gerichtshof formulierte sowohl allgemeine als auch spezifische Überlegungen zu dem Fall. In erster Linie ist der Oberste Gerichtshof der Auffassung, dass der Wille eines Patienten durch ein früher verfasstes schriftliches Gesuch um Beendigung des Lebens bestimmt werden kann, wenn der Patient aufgrund einer Demenz nicht mehr in der Lage ist, seinen aktuellen Willen mündlich auszudrücken. Der Antrag muss ausdrücklich festhalten, dass er sich auf den Fall einer Demenz bezieht. Der Antrag sei jedoch nicht nur aufgrund seines Wortlauts auszulegen, sondern auch aufgrund anderer Umstände, aus denen sich die Absichten des Patienten ableiten lassen, so dass Raum für die Auslegung des schriftlichen Antrags bestehen bleibe. So könne auch bei Vorliegen eines schriftlichen Ersuchens die Sterbehilfe unangemessen sein, wenn aus dem Verhalten oder den Worten des Patienten geschlossen werden könne, dass er diese nicht mehr will. Besonders zu berücksichtigen sei auch die gesetzliche Anforderung, dass das Leiden des Patienten unerträglich ist. Bei der Durchführung der Lebensbeendigung müsse der Arzt auch ein möglicherweise irrationales oder unvorhersehbares Verhalten des Patienten in Erwägung ziehen. Dies könne den Arzt dazu veranlassen, im Voraus ein Beruhigungsmittel zu verabreichen.

Analyse

Der Oberste Gerichtshof hat klare Antworten auf Fragen zur Aktiven Sterbehilfe bei Demenz gegeben. Grundsätzlich ist diese bei Demenz erlaubt, auch bei Patienten, die nicht mehr urteilsfähig sind. Der Wille eines Patienten zur Sterbehilfe kann aus einem früheren schriftlichen Antrag zu einem Zeitpunkt, als dieser noch urteilsfähig und imstande war, seinen Willen klar zu formulieren, abgeleitet werden. Der schriftliche Antrag muss (auch) den Willen des Patienten festhalten, dass sein Leben im Falle einer Demenz beendet werden soll. Allerdings hat Demenz viele Erscheinungsformen, und ihre Entwicklung ist nicht vorhersehbar. Der Patient ist oft nicht in der Lage, im Voraus zu verfügen. Zudem ist nicht jeder fähig, seinen Willen genau zu Papier zu bringen. Darüber hinaus kommt es vor, dass sich die Ansichten eines Menschen über Leben und Tod mit dem Herannahen des Lebensendes verändern. Der Oberste Gerichtshof ist daher zu Recht der Ansicht, dass eine spätere Auslegung des schriftlichen Antrags möglich und notwendig ist. Die Biografie des Patienten und andere Willensäusserungen können dann eine Rolle spielen. Ob das physische und psychische Leiden unerträglich ist, muss ebenfalls gründlich geprüft werden: Nicht jeder demente Patient leidet (noch) unter seiner Situation. Der Oberste Gerichtshof ist auch der Ansicht, dass es ratsam ist, zwei unabhängige Ärzte zu diesen schwierigen Fragen zu konsultieren, obschon dies nicht gesetzlich vorgeschrieben ist. Schliesslich wird bestätigt, dass es dem Arzt gestattet ist, dem Patienten vor der Lebensbeendigung ein Beruhigungsmittel zu verabreichen. Dies wird nicht als Teil der Sterbehilfe betrachtet, sondern als Teil der Vorbereitung einer medizinischen Behandlung, wie dies auch bei anderen medizinischen Verfahren der Fall ist.

Das Urteil des Obersten Gerichtshofs ist von Ärzten und anderen Parteien, die sich mit Fragen der freiwilligen Sterbehilfe befassen, positiv aufgenommen worden: Es bietet eine Orientierungshilfe für diese emotional komplexen Fälle. Die fragliche Ärztin ist inzwischen im Ruhestand und in ihrer Berufsehre rehabilitiert.

 

*Frank van der Hoek ist ehemaliger Richter, Jurist und ehemaliger Vorsitzender eines regionalen Überprüfungsausschusses für Euthanasie in den Niederlanden

 

 

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