ITALIEN Gerichtsurteil: Freispruch für Mina Welby und Marco Cappato im Fall Davide Trentini
Am Montag, 27. Juli 2020 sprach das Gericht in Massa (Toskana) Mina Welby* und Marco Cappato** von der italienischen Organisation Associazione Luca Coscioni vom Vorwurf der Verleitung und Beihilfe zum Suizid frei. Damit präzisiert das Gericht den Begriff «mezzi di sostegno vitale» (lebenserhaltende Massnahmen) aus einem Urteil des italienischen Verfassungsgerichts und bestätigt das Recht, einer schwer leidenden Person unter bestimmten Voraussetzungen auch dann straffrei Suizidhilfe zu leisten, wenn die betroffene Person nicht künstlich beatmet werden muss, aber auf Medikamente und andere unterstützende Massnahmen angewiesen ist um weiterzuleben.
Im Zuge des inzwischen abgeschlossenen Strafverfahrens im Fall von Fabiano Antoniani (bekannt unter seinem Künstlernamen «DJ Fabo») in Mailand, bei dem ebenfalls Marco Cappato der Verleitung und Beihilfe zum Suizid angeklagt war, hatte das italienische Verfassungsgericht am 24. September 2019 entschieden, dass Suizidhilfe unter bestimmten Voraussetzungen nicht strafbar sein kann***, weil ansonsten verfassungsrechtlich garantierte Freiheiten missachtet werden; das Urteil bezog sich auf den Fall, dass die betroffene Person auf lebenserhaltende Massnahmen, im Fall Fabiano Antoniani war dies künstliche Beatmung, angewiesen ist.
Cappato war in der Folge freigesprochen worden. Er hatte Ende Februar 2017 unter grosser Anteilnahme der italienischen Presse und Öffentlichkeit Fabiano Antoniani für eine Freitodbegleitung in die Schweiz, zu DIGNITAS gebracht. Antoniani war nach einem Unfall blind und querschnittgelähmt; er musste zudem künstlich beatmet werden.
Das Urteil des Gerichts von Massa im Fall Davide Trentini ist wichtig, weil es den Handlungsspielraum für die straffreie Suizidhilfe präzisiert. Die Richter legten den Begriff der «lebenserhaltenden Massnahmen» in dem Sinne aus, dass dies auch für das Weiterleben notwendige medikamentöse Behandlungen und andere unterstützende Massnahmen sein können.
Davide Trentini war seit über dreissig Jahren an Multipler Sklerose erkrankt, musste jedoch nicht künstlich beatmet werden. Im April 2017 hatte ihn Mina Welby zu einer Freitodbegleitung in die Schweiz gebracht; Marco Cappato hatte im Vorfeld die finanziellen Mittel für die Reise beschafft. Danach hatten sich die beiden bei der Polizei in Massa selbst angezeigt.
Trotz dieses erfreulichen Urteils kann in Italien in der Praxis noch immer nicht straffrei Suizidhilfe geleistet werden, weil die für die Einhaltung der vom Verfassungsgericht festgelegten Vorprüfungen notwendigen gesetzlichen Grundlagen und institutionellen Strukturen*** noch nicht bestehen. Das italienische Parlament hat bis heute kein Gesetz erlassen, das die Voraussetzungen und Modalitäten für die straffreie Durchführung von Suizidhilfe in Italien regelt. Das Parlament liess bereits mehrere Fristen verstreichen; und eine vor sieben Jahren eingereichte Bürgerinitiative zur Erarbeitung eines Gesetzes für die Suizidhilfe wurde bis heute nicht im Parlament behandelt.
Die Associazione Luca Coscioni hat angekündigt, dass sie in Ermangelung einer gesetzlichen Regelung bereit ist, weitere Präzedenzfälle zur gerichtlichen Klärung zu bringen; insbesondere sei es diskriminierend, dass bei Personen, die schwer leiden, aber auf keinerlei lebenserhaltende Massnahmen zum Weiterleben angewiesen sind (beispielsweise austherapierte Krebspatienten) gemäss bisheriger Rechtsprechung nicht straffrei Suizidhilfe geleistet werden darf.
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* Mina Welby ist eine bekannte Exponentin der Associazione Luca Coscioni und Witwe von Piergiorgio Welby, einem 2006 verstorbenen Pionier für das selbstbestimmtes Lebensende in Italien
** Marco Cappato ist Politiker und Sekretär der Associazione Luca Coscioni
*** Gemäss dem Urteil des Verfassungsgerichts vom 24. September 2019 im Zusammenhang mit dem Fall Fabiano Antoniani ist Suizidhilfe nicht mehr strafbar, wenn die betreffende Person nur mit künstlichen Mitteln am Leben erhalten werden kann. Es muss ein schweres und irreversibles Leiden vorliegen; der Sterbewunsch muss frei und wohl erwogen und die Person in der Lage sein, ihren Willen klar zu äussern; die Voraussetzungen und Modalitäten der Durchführung müssen durch eine Einrichtung des Nationalen Gesundheitsdienstes (SSN) geprüft werden, nach Stellungnahme der territorial zuständigen Ethikkommission.
Newsletter 2020-3-2
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